Ich habe „Rücken“ Folge 1

Heute ist „Rückentag“. Mal wieder. Lumbago, Lumbago, Lumboischialgie, BWS-Syndrom, HWS-Syndrom. Es hört nicht auf. Mein Kollege aus der Notaufnahme hat mich als Verstärkung angefordert. Ich nehme Jonas, denPJ-ler, gleich mit. Wenn „Rückentag“ ist, gibt es viel zu lernen. Ich gehe mit Jonas das Wichtigste noch einmal durch: Anamnese, klinische Untersuchung, Dermatome, Kennmuskeln, Blase-/Mastdarmfunktion, Differentialdiagnosen. Ist das jetzt ein Bandscheibenvorfall oder eine Verspannung? Oder vielleicht eine Blasenentzündung? Drückt es im Rücken nach dem Holz spalten oder ist das ein Herzinfarkt? Wann brauche ich ein Röntgen und wann ein MRT? Oder vielleicht doch ein CCT, weil die Symptomatik für ein zentrales Geschehen spricht? Nach 3 Patienten hat Jonas keine Lust mehr. Keiner mit neurologischen Ausfällen. Interkostalneuralgie, Lumbago, Lumbago. Einige der Patienten werden mit dem Rettungsdienst gebracht und trotzdem ist da nichts „Schlimmes“. Er ist frustriert. Bei Patientin in Kabine 4, Frau Hofmann, kommt Jonas nach der Untersuchung zurück und möchte ein Röntgen der LWS und ein MRT. „Die hat was. Definitiv. Die hat solche Schmerzen, da ist was.“ „Was denkst du denn?“ „Sie sagt, beide Beine sind so schwach und die Knie zittern und sie kann gar nicht richtig stehen. Und sie hat so starke Rückenschmerzen.“ Ich gehe zu Frau Hofmann. Sie ist 23 Jahre alt, liegt auf der Liege wie ein Häufchen Elend, daneben sitzt ihr Freund, der ihr die Hand hält. Die Stimmung im Raum ist drückend, schwer und man wagt es kaum, laut zu sprechen. Ich frage: „Frau Hofmann, wie geht es Ihnen?“ Sie erzählt zurückhaltend von den Rückenschmerzen in der Lendenwirbelregion seit 5 Tagen, zunehmend, ziehend, sie hält es nicht mehr aus. Sie blickt mich kein einziges Mal an. Der U-status ist negativ, keine Schwangerschaft, Blase-/Mastdarmfunktion unauffällig, aktuell keine Periodenblutung. Die klinische Untersuchung ist erschwert, da sie nicht richtig mitmachen möchte, aber unauffällig. Keine Reithosensymptomatik, die Neurologie ist absolut in Ordnung. Ich runzle die Stirn. „Was ist vor 5 Tagen passiert und was geschieht gerade noch so in ihrem Leben?“ Ihr Freund seufzt erleichtert auf. „Ihre Schwester ist vor 5 Tagen gestorben. Bei einem Autounfall. Sie hat Angst. Es ist alles so furchtbar.“ Frau Hofmann schluchzt auf und weint nun bitterlich. Ich lasse die beiden kurz alleine. Als ich zurückkomme, sind die Rückenschmerzen besser, auch ohne Ibuprofen. Sie braucht keine weitere Hilfe oder Unterstützung, sie möchte gerne nach Hause zu ihrer Mutter. Jonas schüttelt den Kopf. „Das gibt es doch nicht. Was machen wir hier eigentlich? Ich bin doch kein Seelsorger. Ich will Orthopäde werden.“ „Dann hoffe ich für dich, dass du Frau Hofmann nicht so schnell vergisst.“ Er rollt mit den Augen und verschwindet gelangweilt in den OP. Den nächsten Patienten verpasst er leider. Herr Franke. Der hat seit 3 Tagen Rückenschmerzen und rennt von einem Arzt zum nächsten. Aber das ist eine andere Geschichte… Folge 2 folgt bald.

5 Gedanken zu “Ich habe „Rücken“ Folge 1

  1. Danke für diesen wichtigen Aspekt! Ich hab seit meiner KnieOP immer Knieschmerzen, wenn mir etwas ernsthaft Sorgen macht. Danke, dass du ganzheitlich schaust 😊

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  2. Hallo Lieschen Müller,

    als Mutter von 2 Kindern und als Weiterbildungsassistentin in der Orthopädie und Unfallchirurgie bin ich auf diesen Blog gestoßen.

    Ja, das mit dem genauen Hinsehen ist für viele ein Problem und mind. einen Kollegen „Jonas“ (…und das sind meist männliche Kollegen) hat auch jeder.
    Auch ich habe gelernt immer genau hinzusehen und das gelingt mir glücklicherweise auch daher, dass ich viele Jahre in der Allg.chirurgie und auch ein Jahr in der Gefäßchirurgie absolviert habe und mir so „der Blick über den Tellerrand“ nicht schwerfällt. Die Patienten sind dankbar dafür, dass sich jemand ihrer annimmt und einem selbst gibt es auch ein gutes Gefühl.

    Viel Erfolgt weiterhin

    A.

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    • Hallo A., vielen Dank für deine Antwort. Ja, das glaube ich. Diese Jahre in anderen Disziplinen bringen sicherlich einige wichtige Erfahrungen, die deinen Patienten nun zu Gute kommen! Das hört sich ja ganz schön spannend an dein Werdegang. Ich würde mich freuen, wenn du Teil des Blogs wirst und mir deine Erfahrungen als Ärztin und Mutter schilderst. Beantworte doch einfach die Interviewfragen und schicke sie mir als Kommentar oder auf unfallchirurginundmutter[@]googlemail.com zurück. Natürlich werden sie anonym veröffentlicht. Liebe Grüße

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